Die Kämpferin und ihr Traum

82 Millionen Einwohner zählt ihre Heimat. Doch Özlem Carikcioglu ist als Skirennfahrerin eine Exotin auf dem Gletscher von Saas-Fee. Unterkriegen lässt sie sich trotzdem nicht.

Es ist Frühling in Istanbul. Kein gewöhnlicher. Denn die Märkte sind leer und fast alle Geschäfte geschlossen. Nur langsam finden die Menschen in der 15-Millionen-Metropole wieder in die Normalität zurück. Die Corona-Pandemie traf Istanbul später als Mitteleuropa, aber ebenfalls mit ziemlicher Wucht. «Eine Zeit lang war es hier ziemlich crazy», sagt Özlem Carikcioglu. Sie sitzt im Wohnzimmer des Hauses ihrer Grossmutter, das etwas ausserhalb von Istanbul liegt. Draussen im Garten könne sie ihr Fitnessprogramm trotz der Ausgangsbeschränkung absolvieren, sagt die 26-Jährige: «Damit ich fit bleibe für die Skisaison.»

82 Millionen Einwohner zählt Özlems Heimatland. Für Schneesport interessieren sich in der Türkei, wo der Bosporus Europa und Asien teilt, nur die Wenigsten. Dabei hat das Land, das für viele Mitteleuropäer eine beliebte Badeferiendestination ist, auch einige Skigebiete zu bieten. Eines davon ist Uludag. Hier, vier Autostunden von Istanbul entfernt, stand Özlem zum ersten Mal auf Skiern – es ist der Anfang einer grossen Leidenschaft.

«In der Türkei ist alles ein bisschen anders; ein bisschen schwieriger als hier», sagt Özlem. Sie meint die Strukturen des Skiverbands. Von professionellen Trainings kann sie in der kleinen Skination nur träumen.

Olympiasieger und Exoten
Es ist Herbst in Saas-Fee. Langsam färben sich die Lärchen rund um das Dorf orange. Eine erste dünne Glasur aus Schnee hat sich fast bis ganz hinunter ins Tal gelegt. Oben auf den Gletscherpisten auf rund 3500 Metern ist immer ein bisschen Winter. Hier bereiten sich ab Juli viele der besten Schneesportler der Welt auf den Winter vor: Kanadier stecken ihre Slalomstangen neben die ausgeflaggten Läufe der Schweizer. US-Amerikaner und Australier rasen über die Skicross-Strecke. Schweden und Norweger perfektionieren auf den Kickern und Rails des Snowparks ihre Tricks. Für fast vier Monate im Jahr wird Saas-Fee zu so etwas wie zum olympischen Dorf für Schneesportler. Ein paar Zahlen belegen dies eindrücklich: Über 80 Teams trainieren teils gleichzeitig auf den Pisten des Feegletschers. Von vielversprechenden Nachwuchsfahrern bis hin zu Olympiasiegern. Aus Zwergstaaten und grossen Skinationen. 41 Medaillengewinner der letzten Spiele in Südkorea bereiteten sich in der Vorsaison in Saas-Fee auf den Saisonhöhepunkt vor.

Mittendrin ist auch Özlem. Seit den ersten Ski-Versuchen auf dem pappigen Schnee von Uludag hat sie eine bemerkenswerte Entwicklung hingelegt. Dass sie Talent hat, war schon früh klar. Bald schafft sie es in das Nachwuchskader ihres Landes. Aber: «In der Türkei ist alles ein bisschen anders; ein bisschen schwieriger als hier», sagt Özlem. Sie meint damit die Strukturen des Skiverbands. Von professionellen Trainings kann sie in der kleinen Skination nur träumen. «Ideen für Verbesserungen gibt es viele. Aber die stossen meist auf taube Ohren», meint sie. Renntaugliche Trainingspisten gibt es wenige. Und um diese zu erreichen, steht ein mehrstündiger Inlandflug von Istanbul in den Osten des Landes an.

«One-Woman-Show» in Südkorea
Es ist Winter in Südkorea. Temperaturwerte im zweistelligen Minusbereich erschweren das Atmen. Özlem lächelt. Sie hat es ins olympische Dorf geschafft. Zusammen mit einem weiteren Skirennfahrer, drei Langläufern, einem Skispringer und zwei Eiskunstläufern vertritt sie die Türkei 2018 an den Olympischen Winterspielen. Acht Athleten vertreten 82 Millionen Einwohner. Viel Vorlaufzeit, um den Karrierehöhepunkt zu planen, blieb Özlem nicht. «Ich erfuhr zehn Tage vor Beginn der Spiele via Instagram, dass ich selektioniert wurde.» Einen Trainer stellt der türkische Verband für die beiden Athleten. Die Ski muss Özlem selbst für die pickelharten Kunstschneepisten präparieren. Das Abenteuer Olympia wird für sie zur «One-Woman-Show». Die Nervosität vor dem ersten von zwei Rennen steigt ins Unermessliche. Özlem bringt ihre zwei Riesenslalomläufe ins Ziel, klassiert sich auf Position 57. Auf Siegerin Mikaela Shiffrin verliert sie knapp 33 Sekunden. Trotzdem: «Ich war überglücklich, dass ich es ins Ziel geschafft habe», sagt Özlem. Eine riesige Last fällt von ihren Schultern. Der Druck hinterlässt seine Spuren: Özlem kämpft danach tagelang mit einer Magendarmgrippe. «Der Arzt meinte, das liege am Stress», erinnert sie sich. Sie geht geschwächt ins Slalomrennen. Kraftlos scheidet sie im ersten Lauf aus. Trotzdem: «Die Olympischen Spiele waren eine wunderbare Erfahrung. Viel mehr als die Rennen genoss ich die Zeremonien», resümiert Özlem.

Als Coach zurück nach Saas-Fee
Es ist Sommer auf dem Feegletscher. Özlem hat ihr Studium in industriellen Ingenieurwissenschaften abgeschlossen. Im Büro hielt sie es bislang nur kurz aus: «Ich kann nicht still sitzen», sagt sie. Lieber gibt sie ihre Erfahrungen als Skirennfahrerin an junge Athleten aus ihrer Heimat weiter. Sie trainiert in Saas-Fee Jugendliche aus der Türkei. Ein grosser Teil ihres Wissens, sagt sie, verdanke sie David Prades. Der Spanier ist Direktor von Ski Zenit, einer Skischule, die sich in Saas-Fee mit Camps für Rennfahrer einen Namen gemacht hat. Hier ist Özlem nicht die einzige Exotin: «Zu uns kommen Athleten aus der ganzen Welt. Wir trainieren mit Chinesen, Iranern oder US-Amerikanern», sagt David. 2013 trainierte Özlem zum ersten Mal mit David. «Er hat mich nicht nur mit meiner Skitechnik weitergebracht. Es passt auch menschlich. Mittlerweile sind wir Freunde», sagt sie. Der Trainer ist ebenfalls zufrieden: «Wenn man bedenkt, wie wenig Unterstützung sie von ihrem Landesverband erhält, dann ist Özlems Weg schon sehr erstaunlich », sagt David. «Sie ist sehr engagiert und liebt ihren Sport wirklich sehr.» David hofft, dass Özlem bald auch für Ski Zenit als Coach arbeitet. «Wir haben schnell gemerkt, wie sehr sie Saas-Fee und Ski Zenit liebt. Es wäre wirklich toll, wenn Özlem ein Teil unseres Teams werden würde.» Tatsächlich hat es Saas-Fee der türkischen Skirennfahrerin angetan. Sie ist begeistert von den kleinen Elektrofahrzeugen, die die Gäste transportieren: «Es scheint, als würde man hier zur Natur wirklich Sorge tragen.» Und langweilig werde es einem in Saas-Fee während der Trainingscamps auch nie. «Es gibt immer irgendwas zu entdecken», sagt sie. Besonders in Erinnerung bleibt ihr der Klettersteig Mittaghorn: «Am Ende des Tages war ich ziemlich erschöpft. Aber es war wunderschön.»

David Prades ist Direktor von Ski Zenit, einer Skischule, diesich in Saas-Fee mit Camps für Rennfahrer einen Namen gemacht hat. Hier ist Özlem keine Exotin: «Zu uns kommen Athleten aus der ganzen Welt. Wir trainieren mit Chinesen, Iranern oder US-Amerikanern», sagt David.

Noch hat Özlem aber auch als Skirennfahrerin Ziele. Ihr grösster Wunsch ist die nochmalige Teilnahme an den Olympischen Winterspielen. Diese stehen im Februar 2022 in China auf dem Programm. «Wir haben 82 Millionen Menschen in der Türkei. Mein Land als beste Athletin in meinem Sport zu vertreten, gibt mir so viel Motivation», sagt Özlem. Die Kämpferin träumt ihren Traum weiter.