Sterben keine Option!

Am 21. Dezember 2018 erhält der kanadische Snowboarder Max Parrot die Krebsdiagnose. Zwei Monate nach beendeter Chemotherapie fährt er an die X-Games und holt Gold. Die Geschichte eines Kämpfers.

Geboren wurde Maxence Parrot mit leuchtend blauen Augen am 6. Juni 1994 in Bromont, im Südwesten von Quebec, in Kanada. Bromont hat ein eigenes Skigebiet. Mit drei Jahren und vermutlich etwas Babyspeck steht Max auf den Skiern. Mit neun entdeckt er das Snowboarden. Als er seinen ersten internationalen Contest in Quebec gewinnt, ist er 16. 2014 vertritt er Kanada bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi, und 2018 holt er in Pyeongchang Silber. An den X-Games gewinnt er insgesamt achtmal Gold und fünfmal Silber. Quasi ein Hollywood-Drehbuch für die Verfilmung einer Nike-Saga. Aber den dramaturgischen Höhepunkt schreibt Max erst noch.

Im November 2018 findet Max einen kleinen Knoten in seinem Nacken und schenkt ihm zunächst wenig Beachtung. «Es war nichts Spezielles. In der Regel bedeutet so ein Knoten nur, dass ich ein paar Tage später krank werde», erzählt Max unbeschwert. «Aber dieser Knoten blieb über drei Wochen und nichts geschah. Ich habe mich nur gefragt, wo die Grippe bleibt», lacht er weiter. Er geht zum Arzt, dieser macht eine Biopsie und drei Wochen später steht fest: Hodgkin-Lymphom. Lymphdrüsenkrebs.

«In meinem Kopf wusste ich es», meint er stoisch. Auch seine Familie reagiert beherrscht: «Alle haben vor dem Test gesagt, dass es bestimmt nichts ist – um positiv zu bleiben. Wir waren uns aber alle im Klaren darüber, dass ich wahrscheinlich Krebs habe», schiebt Max nach. Herzrasen, Nervenzusammenbruch, Todesangst? Bleiben aus. Der Kanadier stellt sofort auf Kampfmodus und gibt sich keine Schwäche. Seine Chemotherapie beginnt unverzüglich; sechs Monate sind geplant.

«In dem Moment, in welchem ich die Diagnose erhalten habe, habe ich mich entschieden, den Krebs zu besiegen.»

Die Hölle der Chemotherapie
«Jede zweite Woche ging ich zur Behandlung. Der erste Tag nach der Behandlung ist der schlimmste, der zweite etwas besser. Eigentlich waren die ersten fünf, sechs Tage immer hart. Ich war extrem müde und konnte gerade mit Mühe einen kleinen Spaziergang mit meinem Hund machen. Nach sechs Tagen fühlte ich mich meist energievoller. Ich habe Sachen erledigt und bin ins Fitnessstudio gegangen», erzählt Max. «Aber dann waren es wieder nur noch vier bis fünf Tage bis zur nächsten Behandlung», er hält kurz inne. «Ausserdem: Je mehr Behandlungen man durchläuft, desto schwieriger wird es. Zuerst sind nur die ersten Tage schlimm. Aber als ich zur neunten Behandlung kam, habe ich mich praktisch zwei Wochen lang schlecht gefühlt. Mein Körper hatte keine Kraft mehr, sich zu erholen», gibt er zu. Hatte er wirklich nie Angst zu sterben? Er zögert kurz. Nicht aus Unsicherheit, eher scheint er abzuschätzen, ob er sagen kann, was er denkt. «Ich hatte nie Angst, den Krebs nicht zu besiegen. Sterben war einfach keine Option für mich. Ich meine …» Er runzelt die Stirn, während er nach den richtigen Worten sucht. «Vielleicht hatte ich irgendwo Bammel oder Furcht. Aber ich habe das den Krebs nicht wissen lassen und es mir nicht eingestanden», stockt er. «Es ist schwer zu erklären», lächelt er schliesslich unbeholfen. Max glaubt an positive Energie und daran, dass der Wille Berge versetzen kann. Vielleicht glaubt er auch, dass Angst oder negative Gedanken dem Krebs Macht gegeben hätten. Jedenfalls liess er sich die Zügel keinen Moment aus der Hand nehmen – gegen den Krebs zu verlieren, stand nicht auf dem Programm.

Nachdem er den Krebs besiegt hat, fliegt Max für sechs Tage nach Saas-Fee. Nach seinem Training hier holt er die Goldmedaille an den X-Games in Norwegen. Bild: Puzzle Media

Lichtblick X-Games
Während seiner Chemo wird überraschend verkündet, dass im August die X-Games angesetzt werden. Max’ Herz macht einen Sprung; keine zwei Monate nach seiner letzten Behandlung würden die Wettkämpfe in Norwegen stattfinden. Es dauert in der Regel bis zu zwei Jahre, bis man sich von Krebs erholt hat. Max nimmt sich knappe acht Wochen. Für ihn ist klar: Er will nicht nur teilnehmen – er wird gewinnen. Er macht es sich zum Ziel und feuert seinen Ehrgeiz auf Hochtouren. Jeden Tag steht er auf und macht etwas, egal was. Egal, wie schlecht es ihm geht – er zwingt sich aus dem Bett, kämpft gegen die lähmende Müdigkeit, die ihn überwältigt und zu Boden drücken will. Kämpft, auch wenn ihm nicht danach ist, wenn er nur schlafen will und sein ganzer Körper nach Ruhe schreit. Sobald es ihm etwas besser geht, geht er ins Fitnesscenter, ab und zu snowboarden,
mountainbiken. Nie überlässt er dem Krebs das Feld. Er kämpft, jeden Tag – mental und körperlich. Fordert sich immer wieder hinaus, überwindet die Grenzen, die der Krebs ihm setzt. Dann erhält er grünes Licht von den Ärzten – der Krebs ist besiegt.

2018 holt Max Parrot in Pyeongchang die Silbermedaille. Doch sein grösster Sieg erringt er ein Jahr später gegen den Krebs. Bild: Kevin Millet

Airbag, Trampolin und Saas-Fee
Zeit für grosse Feiern lässt er sich aber nicht – er beginnt mit dem Aufbautraining. Er trainiert sechs Tage in der Woche, gnadenlos. Am Anfang war es ein reiner Kampf. «Ich wollte mich die ganze Zeit übergeben», berichtet er. Er gibt aber nicht auf, jeden Tag trainiert er stundenlang auf dem Trampolin und dem Airbag, daneben hartesCardio-Training. Sein Ziel: jeden Tag ins Bett gehen und sich sagen können, dass er nicht nur etwas getan hat. Sondern dass er sich heute verbessert hat. Es ist ein schier unmögliches Projekt, in nur sieben Wochen wieder die Kraft und Ausdauer eines Profi-Sportlers zu erreichen. Aber Max treibt seinen geschwächten Körper mit der Macht seines eisernen Willens voran. Für sechs Trainingstage im Schnee fliegt er nach Saas-Fee und trainiert im hiesigen Sommerpark, den Charles Beckinsale für The Stomping Grounds im Herbst vorbereitet hat. Danach fliegt Max weiter nach Norwegen. Und holt dort die Goldmedaille bei den X-Games.

Einstellung ist alles
«Die richtige Einstellung zu haben, ist enorm wichtig im Leben», findet Max. «Ich bin eine Kämpfernatur, und wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, mache ich keine Kompromisse. In dem Moment, in welchem ich die Diagnose erhalten habe, habe ich mich entschieden, den Krebs zu besiegen», sagt er. «Nicht, dass ich immer stark oder immer positiv war. Ich hatte schlechte Tage, richtig schlechte Tage», gesteht er. Diese Worte scheinen ihm schwerzufallen. «Aber ich habe nie aufgegeben und immer weitergemacht, egal wie hart es war, egal wie klein die Schritte waren. Ich habe immer wieder meine Grenzen herausgefordert, Tag für Tag, und mich nicht runterkriegen lassen. Diese Einstellung hat mir das Leben gerettet», ist er sich sicher.

«Ich habe nie aufgegeben und immer weitergemacht, egal wie hart es war. Ich habe immer wieder meine Grenzen herausgefordert, Tag für Tag. Diese Einstellung hat mir das Leben gerettet.»