Der älteste Saaser

Wenn ich über die Traditionen des Saastales nachdenke. Und über die Besonderheiten der Saasini intensiv nachsinne, dann denke ich nicht bloss an Trachtenhüte, Saaser Hauswürste und Saaser Mutten.

Immer wieder muss ich mich mit dem ältesten Saaser beschäftigen. Das ist nicht etwa der Wind, wie oft behauptet. Auch nicht der Geiz, obwohl der Saaser Geiz, zumindest im übrigen Wallis, sprichwörtlich ist. Nein, der älteste Saaser ist der Neid. Eine uralte Sage erzählt: „Da ging der Herrgott über Land. Traf einen Mann. Sagte zu ihm: Wünsche dir, was du willst. Ich werde es dir schenken. Nur, denke daran, dein Nachbar wird das Doppelte erhalten. Darauf sagte der Mann zum Herrgott: Nimm mir ein Auge, dann hat mein Nachbar keins mehr…“ Neid zerstört. Ich denke an jenen Landwirt, der sich keinen neuen Schilter leisten konnte. Aus Neid zerstörte er dann die neue Maschine des Nachbarn.

Das Wörterbuch definiert Neid wie folgt: „Eine Empfindung, bei der jemand einem andern einen Erfolg oder einen Besitz nicht gönnt.“ Neid kann einen innerlich auffressen. Den Betroffenen völlig unzufrieden machen. Deshalb sollte das Phänomen Neid ernst genommen werden. Natürlich kann man mit dem Humoristen Wilhelm Busch lächelnd behaupten: „Neid ist die aufrichtigste Form der Anerkennung.“

Doch manche Menschen werden krank durch ihre neidischen Gedanken. Man empfindet es als ungerecht, dass Menschen, die Stroh im Kopf haben, auch noch Geld wie Heu besitzen. Neid blockiert auch. Der Grund, warum manche Zeitgenossen gegen alle Ideen sind, die nicht auf ihrem Mist gewachsen sind, ist im Missgunst zu finden. Der Filmemacher Luis Bunuel hat schon festgestellt: „Mancher lehnt eine gute Idee bloss deshalb ab, weil sie nicht von ihm ist.“ Ein Verhalten, das sogar in der Freien Ferienrepublik Saas-Fee zu finden ist.

Der Philosoph Arthur Schopenhauer erklärte den Neid mit einem spannenden Hinweis: „Wir denken selten an das, was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt.“ Ein hilfreicher Tipp, auch an das zu denken, was wir haben. Dass Neid unsere Zufriedenheit zerstört, ist bei Psychologen unbestritten und allgemein einleuchtend. Neid als solcher ist aber nicht sichtbar. Doch gewisse Verhaltensweisen sind klare Hinweise: andere abwerten, fremde Leistungen kleinreden, ständiges Vergleichen oder offensichtliches Intrigieren.

Übrigens: Neid ist therapierbar. Man kann lernen, Neid abzulegen. Ein erster Schritt dazu ist die Reflexion über den eigenen Wert. Dein Wert ist unabhängig von deinem Verhalten, deinem Besitz, deinem Aussehen, deinen Eigenschaften, deinem Wissen, deinen beruflichen Leistungen und Fähigkeiten. Menschen sind anders, nicht besser oder schlechter. Ich könnte auch sagen: Jeder Mensch ist ein einzigartiges Geschöpf Gottes.

Ein geringes Selbstwertgefühl lässt Neid entstehen. Wer sich selbst annehmen und akzeptieren lernt so wie er ist, braucht sich nicht mehr mit Vergleichen über Besitz oder Schönheit auf die zerstörerische Ebene des Neides zu begeben.

„Wer nicht zufrieden ist mit dem, was er hat, der wäre auch nicht zufrieden mit dem, was er haben möchte.“
Berthold Auerbach