Der Behüter des Gletschers

Der Glaziologe Felix Keller will unsere Gletscher retten. Er hält sein Projekt für utopisch, glaubt aber gleichwohl an dessen Umsetzung.

Wenn Felix Keller über sein Projekt spricht, leuchten seine Augen. Es sind blaue, wache Augen in Gletscherfarben. Seine Lieblingsfarben waren seit jeher Blau und Weiss. Der 56-jährige Naturwissenschaftler und Glaziologe hat eine Vision: Er will den Morteratschgletscher in Sedrun vor dem vollständigen Abschmelzen bewahren. Wobei es ihm «eigentlich nicht um die Gletscher, sondern vielmehr um das Wasser der Gletscher» geht.

In der Schweiz sind 57 Milliarden Kubikmeter Wasser als Eis in den Gletschern gespeichert. Es ist wertvolles Wasser. Schrumpfen die Gletscher, werden die Flüsse immer weniger Wasser führen. Bleiben im Sommer Niederschläge aus, verhindert nur das Gletscherwasser das Austrocknen der Flüsse im Tal. Sind die Gletscher einmal weg, wird die Wasserversorgung, so wie wir diese heute kennen, voraussichtlich nicht mehr funktionieren.

Vor zwei Jahren war Felix Keller mit seinem damaligen Vorgesetzten am Bildungsinstitut Academia Engiadina in Samedan beim Mittagessen. «Wenn du als Glaziologe etwas wert wärst, solltest du den Morteratschgletscher retten», frotzelte dieser damals. «Vergiss das, das geht nie!», war Kellers Antwort. Vergessen konnte Keller die im Spass an ihn gerichtete Aufforderung zur Rettung des Gletschers allerdings nicht. Schon am nächsten Tag beim Fischen an einem Wildbach begann er die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines solch ambitiösen Projektes durchzudenken. Ob Glas, Metall, Kunststoff oder Papier – vieles wird heute sinnvoll wiederverwendet, überlegte er sich. Wieso nicht auch das Schmelzwasser der Gletscher?

Keller fand auch nach mehrmaligem Drehen und Wenden aller ihm bekannten Fakten keinen Grund dafür, dass die Rettung eines Gletschers nicht gelingen könnte. Das Projekt war geboren. Die Frage, die er sich stellte: «Sollen wir versuchen, für künftige Generationen Gletscher als Süsswasserspeicher zu erhalten?» Keller präsentierte die Idee dem befreundeten Glaziologen Hans Oerlemans von der Universität Utrecht. Messreihen dieser Universität seit 1994 machen den Morteratschgletscher hinsichtlich der Energiebilanz zum weltweit am besten untersuchten Gletscher. Oerlemans erklärte das Projekt, anders als von Keller erwartet, als durchaus realisierbar, empfahl aber, aus einem Teil des Schmelzwassers Schnee zu produzieren und diesen Schutz vor der Sonneneinstrahlung auf einem Teil des Gletschers anzubringen. Hochrechnungen folgten. Falls im Sommer zehn Prozent der Gletscherfläche schneebedeckt gehalten werden könnten, würde der Gletscher in vielleicht zehn Jahren wieder anfangen zu wachsen. Dies wäre eine Sensation. Die Dimensionen dafür sind allerdings gigantisch. Eine Million Quadratmeter müssten meterdick beschneit werden. In der dafür geeigneten Zeit zwischen Winter und Frühsommer bräuchte es dazu 30’000 Tonnen Schnee. Jeden Tag! Dies im Hochgebirge und möglichst ohne den Einsatz von Strom. Mit solchen Dimensionen konfrontiert, standen Keller abermals schlaflose Nächte bevor.

«Falls zehn Prozent der Gletscheroberfläche schneebedeckt gehalten werden könnte,
würde der Gletscher in vielleicht zehn Jahren anfangen zu wachsen.»

Felix Keller (56) ist in Samedan aufgewachsen und hat drei Kinder. Er ist Co-Leiter des heutigen Europäischen Tourismus Instituts an der Höheren Fachschule für Tourismus in Samedan und Dozent mit den Schwerpunkten Tourismusgeografie, Raummanagement, Auslandseminare und Methodenlehre.
Bild: Bruno Bolinger

Als passionierter Geiger gönnt sich Keller allmorgendlich eine halbe Stunde Musizieren. «Das tägliche Geigenspiel weckt meine Kreativität», sagt er. Auf diese ist Keller immer wieder angewiesen, um neue Lösungen zu finden. So plant er die Schneeerzeugung mit einer in der Schweiz patentierten Schneelanze, die ohne Strom auskommt. Das Ausbringen des Schnees soll dank dem Einsatz von Seilbahnen über den Gletscher gelingen. Bald sollen auch Eingaben für Fördergelder erfolgen und ein Prototyp in Zusammenarbeit mit Industriepartnern die praktische Machbarkeit unter Beweis stellen.

Die Kosten des Gesamtprojektes werden für die nächsten 30 Jahre auf 100 Millionen Franken geschätzt. «Das sind nur ein paar Millionen Franken pro Jahr. Wenn dadurch verhindert werden kann, dass auch nur ein Fluss in einem der nächsten trockenen Sommer austrocknet, wäre das gut investiertes Geld», ist Keller überzeugt. Er geht noch einen Schritt weiter: «Ich empfehle, sobald als möglich in allen sechs Einzugsgebieten grosser Flüsse in der Schweiz je einen Gletscher mit unserer Methode zu behandeln.»

Sogenannte Eis-Stupas sind Kegel aus gefrorenem Wasser. Sie werden in den Wintermonaten von Menschenhand erzeugt und dienen im Himalaya in den Trockengebieten als Wasserspeicher. Im Frühling ermöglichen sie die Bewässerung von Kulturland.
Bild: Bruno Bolinger

Keller sagt, dass es am wichtigsten wäre, die Ursachen des Klimawandels grundsätzlich anzugehen, statt sich nur den Symptomen zuzuwenden. «Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, mit diesem Projekt möglichst viele Menschen für einen nachhaltigen Klimaschutz zu begeistern. Einen Klimaschutz, der vom Einzelnen nicht als notwendiges Übel angesehen wird, sondern als breiter Trend, der uns alle zum Handeln animiert.»

Felix Kellers Begeisterung für Umweltthemen und für sein Gletscher-Rettungsprojekt ist ansteckend. Auch in der Kommunikation und Motivation für den Klimaschutz ist Keller aktiv. So organisierte er letztes Jahr ein medien- und publikumswirksames Konzert auf dem Persgletscher. Und er ist Botschafter des internationalen Projektes «I am pro Snow», das Wintersportorte, Wintersportler und Firmen dazu motiviert, dem Klima und dem Schnee zuliebe auf erneuerbare Energien umzusteigen.

Ein weiteres Anliegen von Felix Keller sind die Wasser- und Gletscherprobleme im Himalaya, zu deren Lösung er gerne beitragen möchte. Die Kontakte dafür sind bereits geknüpft. Aus dem Himalaya stammt auch die preisgekrönte Idee für Eis-Stupas. Dies sind Schmelzwasserspeicher in Form von riesigen, oft 20 oder gar 30 Meter hohen Eiskegeln. In den Wintermonaten errichtet, wird mit deren Wasser im Frühling im schnee- und niederschlagsarmen Gebirgsland Ladakh die Bewässerung der Felder sichergestellt. Um auf das Projekt hinzuweisen, werden auf Initiative Kellers auch im Engadin bei der Bahnstation Morteratsch seit einigen Jahren Eis-Stupas in etwas kleineren Dimensionen nachgebaut. Bei alledem bleibt Felix Keller bescheiden, denn er ist sich bewusst, dass es nicht an ihm allein liegen wird, wenn dereinst die Gletscher überleben sollen.